Da trötete mal wieder wer folgendes
"Genau das ist falsch: "Student" und "Studierender" ist NICHT dasselbe! ... Ein "Studierender" ist dagegen jemand, der gerade jetzt, im Moment, aktiv studiert"
Aber Meinung wird auch durch Wiederholung nicht wahr 😏 Deshalb hab ich mal bei Profis recherchiert. Zum Beispiel Sprachwissenschaftler, Prof.Dr. Anatol Stefanowitch, @Anatol Stefanowitsch:
(tl;dr ganz unten)
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Die Wörter Studierender und Lehrender haben eine lange Geschichte, deren Wurzeln in einer Zeit liegen, als man sich um die Bezeichnung weiblicher Lehrender oder Studierender keine Sorgen machen musste, weil es weibliche Lehrende oder Studierende schlicht nicht gab.Das Wort Lehrende findet sich zum Beispiel (und es ist wirklich nur ein Beispiel unter hunderten) in „Die Preussischen Universitäten: Eine Sammlung der Verordnungen, welche die Verfassung und Verwaltung dieser Anstalten betreffen“, einer Sammlung von 1839. Der Grund für die Existenz dieses Wortes wird dort auch sehr schnell deutlich: Lehrende waren schon damals eben nicht nur Professores verschiedenster Art, sondern auch Privatdozenten, Repetenten, Sprachmeister und Exerzizienmeister (letzere drei Gruppen dürften grob heutigen „Lektoren“ und „Lehrkräften für besondere Aufgaben“ entsprechen). Für die brauchte und braucht man einen Oberbegriff, und die Wahl fiel — vielleicht, weil Lehrer/in schon anderweitig vergeben war — auf das auch heute noch gebräuchliche Lehrende.
Auch die Studierenden (alternativ auch Studirende geschrieben) gibt es schon sehr, sehr lange. Das Wort ist seit dem 18. Jahrhundert absolut gebräuchlich, auch bei der Political Correctness absolut unverdächtigen Organisationen wie dem Königreich Bayern
Tatsächlich ergibt eine oberflächliche Korpussuche auf Google Books, dass das Wort zeitweise sogar häufiger war als die angeblich so traditionelle Alternative Studenten. [...]
Es zeigt sich zunächst ein Verwendungssmaximum für Studierende um die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert. Das war, wie gesagt, lange bevor Frauen überhaupt studieren durften — Political Correctnes war hier sicher nicht der Grund. Das Wort Studierende ist und war eben ganz einfach Ergebnis eines weltanschaulich völlig neutralen Wortbildungsmusters, bei dem das Partizip eines Verbs nominalisiert wird, um jemanden zu benennen, der die durch das Verb bezeichnete Tätigkeit ausübt.Ein zweites Verwendungsmaximum findet sich vor 1900, ebenfalls bevor Frauen tatsächlich in nennenswerter Anzahl studieren durften. Das war erst ab 1900 der Fall, und hier sinkt die Häufigkeit des geschlechtneutralen Wortes interessanterweise, während die weibliche Form Studentinnen in ihrer Häufigkeit stetig zunimmt. Die Anwesenheit von Frauen an den Universitäten macht sich also eher durch die explizite Benennung durch die feminine Form bemerkbar, als durch die übermäßige Verwendung von Studierende.
--- Zitat Ende ---
(sprachlog.de/2011/11/18/langle…, 2011)
Und wem Stefanowitch trotz Fachkompetenz zu progressiv ist, kann beim in "der Genderdebatte" wirklich nicht sehr progressiven Verein Gesellschaft für deutsche Sprache e. V. nachlesen[1].
Der Verein schreibt im Beitrag "Müssen Studierende pausenlos studieren? Über substantivierte Partizipien" in "Der Sprachdienst" 2022:
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Müssen Studierende permanent studieren, damit man sie so bezeichnen kann, oder sind sie nur im Moment des Lernens tatsächlich Studierende?Studierende ist ein substantiviertes Partizip I. ... Von einer Substantivierung spricht man dann, wenn ein ursprünglich einer anderen Wortart angehörendes Wort wie ein Substantiv verwendet wird ... Bei substantivierten Partizipien oder Adjektiven wird das Genus ... nur im Singular deutlich: Der/die Studierende, der oder die Auszubildende, abgekürzt: d. Vorstandsvorsitzende. Im Plural gibt es keinen Unterschied: die Studierenden, die Auszubildenden, die Vorstandsvorsitzenden.
Insbesondere im attributiven Gebrauch hat das Partizip I aktivische Bedeutung, z. B. in ein lesendes Kind. Es sagt in einem solchen Gebrauch etwas über das Verhalten, die Tätigkeit des zugeordneten Substantivs aus und bezeichnet ein Kind, das liest. Jedoch gibt es Ausnahmen und das Partizip I in attributiver Stellung bedeutet nicht immer eine aktivische Handlung des genannten Subjekts – so bei die sitzende Arbeitsweise und die liegende Haltung, in denen das Partizip I nur attributiv gebraucht werden kann. Das Partizip gibt in diesen Fällen an, welches Verhalten mit dem im Substantiv Genannten verbunden ist, und zwar »die Arbeitsweise im Sitzen«, »die Haltung des Liegens«, aber nicht von diesem ausgeübt wird (ebd.), also nicht: »die Arbeitsweise, die sitzt« bzw. »die Haltung, die liegt«.
[...]
Eine Möglichkeit, nicht geschlechtsbezogen zu formulieren, entsteht durch die Substantivierung von Partizipien oder Adjektiven, da hier, wie oben erwähnt, vor allem im Plural kein Genus erkennbar ist. Diese grammatische Form ist keine neue, wie die bekannten substantivierten Partizipien die Auszubildenden, die Heranwachsenden zeigen. Ein weiteres Beispiel, welches die Bedeutung des Partizips erweitert, sind stillende Frauen, die ihren Säugling über den Zeitraum von einigen Monaten oder sogar Jahren stillen. In diesem Zeitfenster sind sie Stillende – sowohl in dem Moment, in dem das Kind trinkt, als auch über den Zeitpunkt hinaus, wenn der Säugling satt ist und die Mutter ihn wieder von der Brust nimmt.Die Meinung, Studentinnen und Studenten könnten nur als Studierende bezeichnet werden, wenn sie nichts anderes täten als durchgehend zu studieren oder exakt in dem Moment, in dem sie der Tätigkeit des Studierens nachgehen, stützt sich auf nur eine von mehreren Verwendungsmöglichkeiten des Partizips I – auf den aktivischen Gebrauch. Die Bezeichnung die Studierenden ist jedoch weder ungrammatisch noch falsch verwendet, vielmehr gibt es neben der aktivischen, attributiven Verwendung des Partizips I weitere Kontexte, in denen diese grammatische Form auftritt: die Vorsitzenden, die Reisenden, die Anwesenden oder auch die Stillenden. Sie beschreiben entweder im Moment stattfindende oder gewöhnliche, wiederkehrende Handlungen (Anatol Stefanowitsch, Genderkampf, Berlin 2017) [Ups 😏].
Somit bezeichnet auch das substantivierte Partizip I Studierende eine Gruppe von Menschen, die gewöhnlich und über einen längeren Zeitraum gesehen regelmäßig studieren, nicht ausschließlich diejenigen, die im Augenblick, wenn von ihnen gesprochen wird, etwa in Vorlesungsräumen sitzen und Texte analysieren – ebenso wie Autofahrende nicht im Augenblick der Sprechsituation Auto fahren und Fahrradfahrende nicht in diesem Moment Fahrrad fahren müssen, sondern sie alle den jeweiligen Tätigkeiten über einen längeren Zeitraum hinweg regelmäßig und/oder wiederkehrend nachgehen können.
Wir empfehlen daher den Gebrauch des Ausdrucks der/die Studierende, die Studierenden alternativ zu der Student/die Studentin, die Studenten und Studentinnen und haben dabei nicht die Erwartungshaltung, dass die so Bezeichneten ohne Unterlass studieren: So sind sie dann nicht nur Studierende, sondern zeitweise wohl auch Schlafende, Essende oder Feiernde.
--- Zitat Ende ---
Den Asterisk lehnt die GfdS übrigens ab; gfds.de/gendersternchen/, mit den bekannten sprachtheoretischen, gesellschaftsignoranten Argumenten.
Stefanowitch formuliert es knapper (2010):
--- Zitat ---
Wenn mich früher jemand gefragt hat „Und was machst du?“, habe ich selbstverständlich geantwortet „Ich studiere Sprachwissenschaft“, auch wenn ich tatsächlich gerade biertrinkend in der Kneipe saß. Und niemand würde behaupten, dass daran irgendetwas merkwürdig oder unlogisch wäre... Wenn ich aber biertrinkend in der Kneipe sitzen und von mir sagen kann, dass ich „studiere“, kann ich auch sagen, ich sei ein „Studierender“.Ebenso kann jemand Alleinerziehend sein, auch wenn er/sie [wir sind in 2010!] sich einen Moment lang erschöpft zurücklehnt und das erziehen sein lässt ...
Die Nominalisierung von Partizipien ist eine hervorragende, mit den Regeln der deutschen Sprache voll konforme Art, geschlechtsneutral verwendbare Bezeichnungen für die Ausübenden von Berufen und anderen Tätigkeiten zu schaffen. Ob diese Tätigkeit im Augenblick oder gewohnheitsmäßig ausgeübt wird, ergibt sich im Zweifelsfall aus dem Gesprächszusammenhang oder der Art der Tätigkeit selbst. Wer anderes behauptet, ist dabei kaum von der Sorge um die deutsche Sprache getrieben, sondern von der Angst vor der sprachlichen Gleichbehandlung einer traditionell an den Rand gedrängten Mehrheit.
--- Zitat Ende ---
(sprachlog.de/2010/04/25/danebe…)
tl;dr:
\1. Die Partizipformen sind seit Jahrhunderten in Gebrauch.
\2. Sie gelten nicht nur für aktuelle Tätigkeit, sondern auch für Personen, die die Tätigkeit gewöhnlich/wiederkehrend ausführen.
\3. Sie sind grammatisch vollkommen korrekt.
\4. Sogar das Empfehlungsgremium der KMK empfiehlt sie als inklusive Formen für alle #Geschlechter (aka #Genus, #Sexus, #Gender, ...)
[1] Zitat Wiki "Die Gesellschaft für deutsche Sprache e. V. (GfdS) ist ein hauptsächlich von der deutschen Kultusministerkonferenz und dem Kulturstaatsminister finanzierter Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die deutsche Sprache zu pflegen und zu erforschen sowie die Funktion der deutschen Sprache im globalen Zusammenhang erkennbar zu machen. Die GfdS begleitet dabei den jeweils aktuellen Sprachwandel kritisch und gibt Empfehlungen für den Sprachgebrauch."
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Jaddy
Unbekannter Ursprungsbeitrag • •@MS noma
Das mit dem offiziellen... sehe ich im Sprachgebrauch kontextabhängig. Mal sind Studierende allgemein gemeint, mal zum Beispiel "S. der Uni X". Ich denke, es umfasst beides. Unschärfe ist da mMn okay.
"Weintrinkend" wäre zum Beispiel im Gegensatz zu "Biertrinkend" eine Frage der Präferenz: "Bist Du eher W. oder B.?". Auch da ist etwas Unschärfe okay, die der Kontext dann richtet.
"Das Nähere definieren die Fußnoten" 😏
Die beiden Beiträge aus dem Sprachblog sind von 2010 und 2011, was auch den Schrägstrich und das fehlende nichtbinäre Inklusivum erklärt. D.h. der Schwerpunkt genderinklusiver Sprache liegt da noch voll auf der Sichtbarmachung von Frauen.
Auch schön, daran zu sehen, wie uns schon Texte seltsam auffallen, die erst ein Dutzend Jahre alt sind und damals an der vordersten Front der Progressivität ✊ 🙂